Gestern hat sich eine unfassbare Tragödie ereignet: Der Amoklauf von Winnenden.
Der Journalist Nils Minkmar hat einen lesenswerten Artikel in Stefan Niggemeyers Blog verfaßt, Tag der Trauer:
[…] Der auch bei mir so brennende Wunsch nach einer präzisen politischen Äußerung, nach weiteren Details, nach Hinweisen zum Elternhaus, zum Freundeskreis, kommt mir immer vor wie ein sublimierter Hütehundimpuls: Man will das ausreißende Geschehen irgendwie rational oder moralisch einholen. Die Tat soll eine Botschaft, eine Lehre enthalten. Sie muss Gründe gehabt haben, jemand muss rote Ampeln überfahren haben — und wenn wir gedanklich an diese Weggabelung zurückkehren, dann ist es, als hätten wir es halb verhindert. Als könnte die Welt repariert werden.
In Wahrheit geht das nicht. Man kann nicht jedem seltsamen Teenager mit dem Amokpräventionskatalog begegnen. Man kann nicht jeden Ballerspieler und Soziopathen unter Beobachtung halten. Und mit welchem Recht? Die meisten sind völlig harmlose Zeitgenossen.
Amok ist ein sadistisches Verbrechen: Der Schütze maßt sich absolute Macht an, demütigt seine Opfer und indirekt seine Eltern. Sadisten kann man mit Regeln, Kontrollen und Gesetzen nicht fassen, sie freuen sich an ihrer Fähigkeit, in Systemen zu funktionieren und sie gleichzeitig auszutricksen. […]
Jemand muß Schuld sein. Es kann nicht angehen, dass „ein ganz normaler Teenager“ einfach mal so an einem Mittwoch vormittag in seine alte Schule geht und dort und im weiteren Verlauf seiner Flucht 15 Menschen tötet. Es wird wieder darauf hinauslaufen, dass zwei Wochen lang über das Internet diskutiert wird, das „solchen Täter“ eine Plattform oder zumindest Anregungen bietet (was im Fall Tim K. aber wohl keine Rolle gespielt hat), über Killerspiele, in denen „solche Täter“ schonmal üben können, wie es ist, wenn man einen anderen Menschen kaltblütig erschießt und über Gewaltvideo, die „solchen Tätern“ als Vorlage dienen können. Nur das Waffenrecht wird nur kurz diskutiert, denn dafür haben wir schließlich eine Lobby und außerdem hat der Vater des Täters gegen das geltende Waffengesetz verstoßen, als er seine Pistole, die spätere Tatwaffe, mit 100 Schuß Munition unverschlossen im Schlafzimmer aufbewahrte.
Im Mittelalter hätte man wohl behauptet, der Junge wäre von Dämonen besessen gewesen, hätte sich eine ältere Dame im Umfeld gesucht, die ihn verflucht haben könnte und diese kurzerhand als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hexenverbrennungen sind nun schon länger aus der Mode und eine Renaissance ist nicht in Sicht. Daher stürzt man sich gern auf die diabolischen Werkzeuge der Neuzeit, weil wir nicht fassen können, dass jemand von uns eine solch schreckliche Tat verüben konnte, dass vielleicht jeder von uns unter bestimmten Voraussetzungen dazu in der Lage wäre. Das ist ein Gedanke, der wirklich schwer zu ertragen ist.